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Integrationspolitik |
"Auszüge aus der Grundsatzrede von Ministerpräsident Dr. Jürgen Rüttgers zum Thema ?Mehr Zuwanderung oder mehr Einbürgerung? Eine neue Integrationspolitik für Nordrhein-Westfalen? vom 10. Juni 2006 |
I.(...)Es vergeht (...) kaum ein Monat, in dem wir nicht mit der politischen Brisanz der Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte konfrontiert wären. Ich erinnere an den Mord an der jungen Türkin Hatun Sürücü in Berlin ? ermordet von ihrem eigenen Bruder, weil er den modernen Lebenswandel seiner Schwester als Verletzung seiner so genannten Ehre empfand. Ich erinnere an die Gewalttätigkeiten an der Rütli-Schule in Berlin ? einer Schule mit einem extrem hohen Anteil von Jugendlichen ausländischer Herkunft. Die Lehrer haben dort regelrecht kapituliert. Ich erinnere an den Karikaturenstreit, der mehrere Menschenleben gekostet hat. Er hat das finstere Gespenst eines globalen Kampfes der Kulturen an die Wand gemalt. |
Ich erinnere an die massiven Unruhen in den französischen Vorstädten, in denen junge Franzosen ausländischer Herkunft ihrer Wut freien Lauf gelassen haben. Sie haben die Illusion einer gelungenen Integration im Land von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zerstört. Ich erinnere aber auch daran, dass wir in Deutschland inzwischen eine Diskussion darüber haben, ob Menschen mit anderer Hautfarbe sich noch gefahrlos in bestimmten Regionen unseres Landes aufhalten können. Es ist eigentlich eine Schande, dass wir solche Debatten führen müssen. All das zeigt: Die Integration der Menschen mit einer Zuwanderungsgeschichte ist die vielleicht wichtigste gesellschaftspolitische Herausforderung der Zukunft. II. (...) Es ist deshalb an der Zeit, dass wir uns von einigen Lebenslügen verabschieden. Wir werden die Probleme nur lösen können, wenn wir uns der Wirklichkeit stellen. Wir (...) haben uns zu lange der Illusion hingegeben, dass die Menschen, die zu uns gekommen sind, wieder nach Hause gehen würden. Wir haben seit den 60er Jahren Menschen hierher geholt, die viel zu unserem Wirtschaftswunder beigetragen haben. Sie sind deshalb auch bei uns geblieben. Der gerade publizierte Mikrozensus hat ergeben, dass die Menschen mit Zuwanderungsgeschichte inzwischen ein Fünftel der Bevölkerung Deutschlands ausmachen! Aber viele Menschen, die zu uns gekommen sind, sind immer noch nicht bei uns angekommen. Sie haben hier gearbeitet, aber sie sind vielfach unter sich geblieben. In einer statistischen Übersicht in der Wochenzeitung DIE ZEIT war kürzlich zu lesen: ?Viele, wenn nicht die meisten Muslime haben keine deutschen Freunde.? Dort stand aber auch: ?Die meisten wünschen sich mehr Kontakt zu den Einheimischen.? Das müssen wir aufgreifen und fördern. Die Zuwanderer haben viel zum Wohlstand unseres Landes beigetragen, aber ihre Kinder haben nicht die gleichen Bildungschancen bekommen oder sie haben sie nicht genutzt. Die Schulabbrecherquoten sind gestiegen, nicht gesunken. Der Anteil an den Abiturienten ist konstant niedrig (rund 10 Prozent im Vergleich zu 30 Prozent). Viel zu wenige Jugendliche ausländischer Herkunft ergreifen zukunftsorientierte Dienstleistungsberufe. Die katastrophalen Ergebnisse der jüngsten PISA-Studie über Einwanderer sprechen Bände. Wir müssen uns klarmachen, dass schon in wenigen Jahren die Hälfe aller Jugendlichen in deutschen Großstädten ausländischer Herkunft sein wird. Hier tickt eine soziale Zeitbombe, wenn wir diesen Jugendlichen keine besseren Bildungschancen eröffnen. Aber mit Chancen allein ist es nicht getan. Wir müssen auch mehr Druck aufbauen, dass diese Bildungschancen wahrgenommen werden! III. Diese Multi-Kulti-Illusionisten erinnern mich immer an den Witz von dem Mann, der Fremde in seiner Nachbarschaft sieht und zu seinem Nachbarn sagt: ?Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden, die sind nicht von hier.? Die Anerkennung der Vielfalt von Kulturen darf nicht bedeuten, einer multikulturellen Beliebigkeit das Wort zu reden. Selbst die Grünen haben das langsam erkannt und räumen jetzt ihre ?Wohlfühlpositionen? ab, wie neulich zu lesen war. Sie haben erkannt, dass man ohne ein gemeinsames Wertefundament nicht zusammen existieren kann. Und sie haben erkannt, dass dieses Wertefundament eben nicht nur aus Rechten, sondern auch Pflichten besteht. Ich kann mich noch gut erinnern, welcher Sturm der Empörung von den immer gleichen berufsmäßig Empörten zu hören war, als Friedrich Merz vor gut fünf Jahren die Leitkulturdebatte eröffnete. Die anti-deutschen Reflexe funktionierten wie das Pawlowsche Reiz-Reaktions-Schema. Heute sind die Schreihälse von damals auffallend still geworden ? wenn man mal von Claudia Roth absieht. Leute wie Claudia Roth haben die Idee einer offensiv verteidigten Leitkultur immer als Hindernis für mehr Integration denunziert. Ich sage dagegen: Nur wer sich offensiv und selbstbewusst zu seiner Kultur bekennt, wird in der Lage sein, Fremdes und Fremde erfolgreich zu integrieren. Nur wer in seiner eigenen Kultur zu Hause ist, kann das Fremde als das andere verstehen. Wer dagegen seine Kultur verleugnet, wird auch Menschen aus anderen Kulturen nicht verstehen können. Wenn wir unsere Traditionen, unsere Sitten und unsere Geschichte vergäßen, wären wir nicht offener für das Fremde. Wir wären gar nicht in der Lage, das Fremde mit seinen eigenen Traditionen, mit seinen eigenen Sitten, mit seiner eigenen Geschichte zu verstehen. Ein Bekenntnis zur Leitkultur bedeutet also nicht Deutschtümelei, sondern ein Bewusstsein für den Wert der eigenen Traditionen, der Heimat, der eigenen Geschichte. Ein Bekenntnis zur Leitkultur bedeutet, für die grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens einzustehen und das auch von anderen einzufordern. Für jeden, der hier bei uns lebt, ist das Grundgesetz verbindlich. Zwangsehen und so genannte Ehrenmorde dürfen nicht als kulturelle Besonderheiten gelten, sondern stehen in eklatantem Widerspruch zu unserer freiheitlichen Grundordnung. Sie müssen bestraft werden. Genau deshalb ist der Islamismus für uns eine so starke Herausforderung. Ich spreche bewusst vom Islamismus, nicht vom Islam. Der Islamismus ist eine totalitäre Ideologie und eine radikale Opposition gegen die westliche Zivilisation und ihre Grundlagen. Er ist eine massive Herausforderung an uns und unsere Werte. Er zwingt uns, unser Verhältnis zu Staat und Religion unmissverständlich klarzustellen. Er zwingt uns Farbe zu bekennen ? mit postmoderner Beliebigkeit kann man dem Islamismus nichts entgegensetzen. Wir müssen die Werte der Moderne, die Werte der Aufklärung und des Humanismus, vielleicht heute mehr denn je kämpferisch verteidigen. Nur dann ist die Einheit in Vielfalt gewahrt. Eine fragmentierte Gesellschaft kann keine wirklich demokratische Gesellschaft sein. Denn Demokratie bedeutet eben auch, dass Mehrheitsentscheidungen auch von Minderheiten akzeptiert und bejaht werden müssen. Das hat zur Voraussetzung, dass Minderheit und Mehrheit elementare Grundwerte teilen. Nur dann kann sich auch ein Wir-Gefühl entwickeln. Deshalb ist es auch so wichtig, den Akt der Einbürgerung aufzuwerten. Sie muss ein bewusster Akt sein. Er muss ein klares Bekenntnis zu Deutschland sein. Deshalb ist es ein Erfolg (...), dass die Länder künftig einheitliche Einbürgerungskurse anbieten, in denen die Grundsätze und Werte unserer Verfassung vermittelt werden ? und es ist ein Erfolg, dass das Bekenntnis zu unseren Verfassungswerten auch überprüft wird! Es ist ein Erfolg, dass die Sprachprüfung künftig bundesweit einheitlich sein wird und dass der Einbürgerungswillige künftig nachweisen muss, dass er sich mündlich und schriftlich ausreichend auf Deutsch verständigen kann. Es ist ein Erfolg, dass künftig ein stärkeres Gewicht auf der Rechtstreue liegt. Und es ist ein Erfolg, dass die Einbürgerung künftig in einem feierlichen Rahmen vollzogen wird. Aber ich will auch, dass wir mehr Einbürgerungen bekommen. Seit Jahren ist der Trend rückläufig. Das müssen wir ändern. Denn Einbürgerungen sind ein Zeichen gelungener Integration. Die Landesregierung wird die Einbürgerungsfeiern deshalb in Zukunft stärker unterstützen. Wir müssen den Menschen das Gefühl für den Wert der deutschen Staatsangehörigkeit stärker als bisher vermitteln. Und sie wird aktiv für mehr Einbürgerung werben und damit deutlich machen, wie wichtig uns eine bewusste Einbürgerung ist. Deshalb fordere ich alle politisch Verantwortlichen auf: Werben Sie für mehr Einbürgerung bei sich vor Ort, in der Gemeinde und im Wahlkreis! IV. (...) Denn wir sind uns ? gerade im Jahr unseres 60-jährigen Gründungsjubiläums ? bewusst, dass unser Land wie kein anderes in Deutschland durch Zuwanderung geprägt worden ist. Ich erinnere nur an die vielen Arbeiter aus Polen und Oberschlesien, die während der Industrialisierung ins Ruhrgebiet gekommen sind. Knapp vier Millionen Menschen sind zwischen 1870 und 1950 ins Ruhrgebiet zugewandert. Ihre Zuwanderung ist ein großartiges Beispiel gelungener Integration. Und ich erinnere an die vielen Heimatvertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus den früheren deutschen Ostgebieten in Nordrhein-Westfalen eine neue Heimat gefunden haben. Ein Viertel der Menschen in Nordrhein-Westfalen hat heute seine Wurzeln in der Heimat der Vertriebenen. Deshalb ist uns auch die Förderung der Kultur der Heimatvertriebenen und der Spätaussiedler so wichtig. Denn sie ist Teil unserer eigenen Kultur hier in Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen ist ein Land der kulturellen Vielfalt. Im Ruhrgebiet und der Rheinschiene leben Menschen aus 140 Nationen. Und in keinem anderen Bundesland leben so viele Menschen muslimischen Glaubens wie hier in Nordrhein-Westfalen. Die Zentralen der wichtigsten Dachverbände und Organisationen muslimischen Glaubens sind bei uns angesiedelt. Wenn es ein Land gibt, wo die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft auf dem Prüfstand steht, dann ist es Nordrhein-Westfalen! V. Wir haben als erstes Bundesland ein eigenes Integrationsministerium eingerichtet. Hier bündeln wir alle Maßnahmen, um mehr Effizienz und Effektivität bei der Integrationsarbeit zu erreichen. Wir haben einen Integrationsbeauftragten der Landesregierung, der im intensiven Dialog mit allen relevanten Gruppen und Verbänden steht, vor allem mit dem Islam. Und wir berufen einen neuen Beirat zur Integrationspolitik, in dem Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik die Integrationspolitik der Landesregierung regelmäßig beraten werden. Integration ist eine Querschnittsaufgabe. Aber wir setzen klare inhaltliche Schwerpunkte. Auch das ist ein klares Signal für die Abkehr von der Politik der Beliebigkeit. Die Schwerpunkte heißen Bildung und Arbeit. Sie sind die Schlüssel für eine erfolgreiche Integration in der globalisierten Wissensgesellschaft. Die Sprachkompetenz ist der wichtigste Faktor für eine erfolgreiche Berufslaufbahn. Wir setzen so früh wie möglich dabei an: Wir haben verpflichtende Sprachtests bereits vor der Einschulung eingeführt. Wenn sprachliche Defizite bestehen, bekommen die Kinder die nötigen Hilfen, damit sie bei der Einschulung soweit sind, dass sie dem Unterricht folgen können. Wir haben die Mittel für die vorschulische Sprachförderung deshalb auch mehr als verdoppelt und werden damit die Kinder flächendeckend erreichen. Wir entwickeln die Regionalen Arbeitsstellen zur Förderung von Kindern und Jugendlichen weiter zu einem Netzwerk ?Bildung und Integration?. So nutzen wir Synergieeffekte durch bessere Vernetzung. Wir erweitern vor allem das Angebot der Ganztagsschulen. Zu Beginn des nächsten Schuljahres werden es bereits 110.000 Plätze in den Grundschulen sein, das sind fast 40.000 mehr als vor einem Jahr! Das kommt gerade Kindern und Jugendlichen mit einer Zuwanderungsgeschichte zugute. Und mit den neuen Familienzentren werden gerade auch für Zuwanderer neue Chancen für Beratung, Betreuung und Sprachförderung geschaffen. Die vielfach mangelnde Qualifizierung junger Menschen mit Zuwanderungsgeschichte bekämpfen wir mit einer breiten Palette von Maßnahmen: Integration muss sich im Alltag bewähren. Sie muss vor Ort geschehen. Nur wer das Subsidiaritätsprinzip stärkt, wird auch integrationspolitisch Erfolg haben. Deshalb bauen wir die integrationspolitische Partnerschaft zwischen Land und Kommunen stärker aus. In 38 Kommunen des Landes werden Projekte gefördert, die wegweisend für eine bessere Integrationsarbeit vor Ort sind. Gelingende Integration braucht aber über die kommunale Ebene hinaus tragfähige und legitimierte politische Strukturen. Immer wieder kommt es im Alltagsleben zu kulturellen Missverständnissen und Konflikten, die gesellschaftlich und politisch gelöst werden müssen ? ob es um den Moscheebau, um das Schächten, um Bestattungs- oder Seelsorgefragen geht. Wir dürfen diese Probleme nicht ignorieren. Aber es gibt für diese Probleme bisher jenseits der jeweiligen kommunalen Ebene keine politisch wirksame Struktur. Sie muss geschaffen werden! Wir brauchen eine politisch repräsentative Institution aller Muslime in NRW. Sie muss sich klar vom Islamismus abgrenzen und sich eindeutig zum Grundgesetz und zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen. Die Fraktionen im Landtag haben sich bereits gemeinsam auf dieses Ziel verständigt. Die Landesregierung unterstützt dieses Projekt mit allem Nachdruck. Denn nur über eine solche Institution werden wir erreichen, dass sich die muslimischen Spitzenverbände endlich von den politischen Vorgaben in den Herkunftsländern lösen, die Integration in die deutsche Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen und ihre Binnenstrukturen demokratisch gestalten. Die Verbände müssen erkennen, dass es auf ihre Selbstorganisation ankommt. Der Staat kann nur Angebote machen und den rechtlichen Rahmen abstecken. Aber wenn beide an einem Strang ziehen, werden wir Erfolg haben. Der Weg muss über die Kommunen gehen: Das Instrument ist die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache und unter deutscher Schulaufsicht. (...) Wir werden deshalb die islamische Unterweisung im Rahmen eines Schulversuchs auf kommunaler Ebene zu einem islamischen Religionsunterricht weiterentwickeln. Dazu sollen sich ausgewählte örtliche Moscheegemeinden zu einer lokalen Vertretung zusammenschließen. Das ist die Vorstufe für die Organisation einer Vertretung aller Muslime auf Landesebene. VI. |